Mutig das eigene kreative Potenzial entdecken:

Yolo – mal raus aus der Komfortzone!

Herausforderungen sind nicht nur wichtig für die Karriere, sie steigern im Erfolgsfall auch das Selbstbewusstsein, die Freude an der Arbeit und die Lebenszufriedenheit. Aber warum empfinden wir sie als so anstrengend?

Von Tom Rückerl

Der Tag hätte so schön sein können. Vertriebsassistentin Maria P. blickt auf die Uhr, fünf vor zwölf. Sie schaut zu ihrer Kollegin Sandra T. aus der Marketingabteilung hinüber. Sie nicken sich zu, verstehen sich nach all den Jahren ohne Worte. Gleich würden sie wie jeden Tag gemeinsam in die Kantine gehen. Freitags ist Currywurst-Tag. Maria fährt den PC runter. Indessen steuert Verkaufsleiter Oskar W. mit schlafwandlerischer Sicherheit seinen Firmenparkplatz  an – wie immer gleich links neben dem Geschäftsführer.

Maria, Sandra, Oskar, sie alle befinden sich noch wohlig in ihrer Komfortzone. Die fiktiven Beispiele zeigen, was wir Psychologen meinen, wenn wir von diesem Begriff sprechen. Eine vertraute Umgebung, bekannte Menschen, Rituale, feste Plätze und Routine-Tätigkeiten. Im Privatleben genießen wir unsere Komfortzone ganz besonders - alles häuslich-heimische, das uns keine große Anstrengung abverlangt.

Unser Unbewusstes liebt diese Gewohnheiten. Es neigt sogar dazu, neue Verhaltensweisen zunächst abzulehnen, weil sie sich anfangs „nicht richtig“ anfühlen. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Es ist wie mit dem Autofahren: einmal gelernt, wird der Prozess automatisiert. Sehr bequem, aber irgendwie auch langweilig.

Unser Gehirn sendet das beruhigende Signal: alles - wie - immer. Wir schalten auf Autopilot und agieren unbewusst, nach Schema F. Mahlzeiten, Feste oder der sonntägliche Tatort mit Schoko Traubevollmilchnuss. Nicht grundlos wird die Komfortzone auch Kuschelzone genannt.   

Und dann das: Das Gerücht von der Neustrukturierung verbreitet sich in der Kantine von Marias Firma wie ein Lauffeuer unter den Mitarbeitern. Doch das Gerücht ist kein Gerücht. Um Synergien zu nutzen, sollen die Abteilungen Verkauf und Marketing schon zum nächsten Monat zusammengelegt werden, die Arbeitsprozesse neu definiert und strukturiert werden. - Ein Fall, wie er tagtäglich so oder ähnlich in vielen Unternehmen in Deutschland vorkommt. Für viele Mitarbeiter bedeutet so ein Gerücht einen massiven Angriff auf ihre Komfortzone. Veränderungen werden zunächst als bedrohlich empfunden.

Immer öfter konsultieren Firmenchefs vor so einer Maßnahme einen Business Coach, um die Mitarbeiter bei diesem Prozess mit Coachings zu begleiten. Noch viel öfter werden wir erst nach so einer Maßnahme gerufen, wenn es darum geht, aufgebrachte, verunsicherte Mitarbeiter an die neuen Prozesse zu gewöhnen, starre Verweigerungshaltungen zu lösen und wieder Ruhe, Zufriedenheit und Motivation ins Team zu bringen.

 

Mit Coaching Veränderungsprozesse steuern 

Das Verlassen der Komfortzone gleicht ein wenig der Vertreibung aus dem Paradies, oder dem Rausschmiss aus der kuscheligen Höhle, in die sich unsere Vorfahren in der Steinzeit  zurückzogen. Evolutionsbiologisch hat unsere Komfortzone, die Höhle von einst, eine überlebenswichtige Funktion. Hier entspannten sich unsere Urahnen nach der anstrengenden Jagd. Hier fanden sie Zuflucht und Schutz vor dem Säbelzahntiger und anderen Gefahren. Hier konnten sie sich wärmen, fortpflanzen und gegenseitig fellpflegen. Anschließend konnten sie es auch wieder mit den Gefahren des Lebens aufnehmen. Ohne diesen schützenden Zufluchtsort wären wir vermutlich bereits ausgestorben.

Übertragen wir den Höhlengedanken auf unsere heutige moderne Zeit, verstehen wir, wie wichtig es für den Menschen ist – und schon immer war – sichere Rückzugsbereiche zur Revitalisierung zu haben. Die magisch-beruhigende Wirkung von Feuer – einst die offene Feuerstelle unserer Vorfahren, heute virtuell prasselndes Feuer im computer- animierten Kamin - belegt diese Wirkung. Nur haben wir es heute nicht mehr mit Säbelzahntigern zu tun, sondern mit Vorgesetzten, nervigen Kollegen oder den technischen Herausforderungen des modernen Lebens. Oder eben, wie Maria, Sandra und Oskar – mit immer schnelleren Veränderungen der Arbeitswelt.       

Unser als beruhigende Sicherheit empfundenes Gleichgewicht wird unangenehm gestört. „Achtung“, signalisiert unser limbisches System – etwas ist anders als sonst, möglicherweise droht Gefahr! Notgedrungen schalten wir den Autopiloten aus und suchen in unserem Gehirn nach möglichen passenden Verhaltensmustern. Denn alles, was ein Mensch im Laufe seines Lebens gelernt hat, ist als neurologische Bahn in seinem Gehirn abgespeichert. Je häufiger das Gelernte benutzt wird, desto stabiler entwickelt sich die neurologische Verbindung. Sobald sich eine Bahn im Gehirn etabliert hat, entsteht der Drang, auf Anforderungen mit genau dieser Verhaltensweise zu reagieren.

 

Achtung: Situation unbekannt!

Im Falle einer Störung schickt unser moderner Frontalkortex uns postwendend eine SMS: Situation unbekannt. Noch nie dagewesen. Mit nix vergleichbar. Was tun? Nun sind wir zunächst einmal ziemlich hilflos. Auf der Gefühlsebene reagieren wir oft mit Wut und Aggression oder mit Angst, Rückzug und Verleugnung. Einige Tiere stellen sich im Fall drohender Gefahr einfach tot – sie signalisieren dem Gegner: Angriff zwecklos, bin schon tot. Das Verhaltenspendant des Menschen ist eine ähnliche Starre – viele tun einfach so, als wäre nichts. Machen einfach weiter wie bisher.

Was aber sollen sie auch tun, wenn ihnen niemand ihre verständliche Angst nimmt, sie mit Informationen darüber versorgt, wie es nach einer Veränderung für sie weitergeht, ihnen sagt, dass sie in Sicherheit sind, sie sich mitgenommen und wertgeschätzt fühlen? An diesem Punkt werden im Management die größten Fehler gemacht. Erstaunlicherweise verstehen viele Manager es nicht, ihre Mitarbeiter emotional abzuholen und vertrauensvoll in eine neue Richtung zu führen. Mehr noch: Ihnen die Chancen und Gewinnpotenziale aufzuzeigen, die jede Veränderung auch mit sich bringt.

 

Lohn der Angst

Die leicht verständliche Metapher der Komfortzone ist auch im Coaching extrem hilfreich. Haben wir bisher davon gesprochen, wie existenziell wichtig dieser Bereich für unser Leben ist, so geht es andererseits jedoch auch darum, die faszinierende Welt jenseits, also außerhalb unserer Komfortzone zu entdecken, zu würdigen und zu nutzen. Außerhalb unserer Kuschelzone ist Abenteuerland; nur dort können wir uns weiterentwickeln, unbekannte Erfahrungen machen, neue Fähigkeiten und Einsichten gewinnen. Ein gewisses Risiko ist immer dabei, als anstrengend empfinden wir es auch, zugleich aber auch als prickelnd und belebend. „No risk, no fun“, sagt der Volksmund. Oder im SMS-Speak der Generation Y: Yolo – you only live once.

Daher plädiere ich dafür, die Komfortzone hin und wieder bewusst zu verlassen und damit zu erweitern. Wir kennen es alle: Beim ersten Mal, da tut‘s noch weh. Die erste Stunde Arbeit mit dem neuen PC Programm ist qualvoll. Wir sind genervt, ersehnen die alte Sicherheit zurück und verfluchen die gesamte IT-Abteilung. Die zweite Stunde gelingt schon besser und nach der dritten brüsten wir uns mit unseren neuen Fähigkeiten vor Kollegen, den „technikfeindlichen Bremsern“. Selbstbeobachtung und Lebenslanges Lernen sind die Schlüssel zur Erweiterung der eigenen Komfortzone.

In unsere Coaching-Kompakt-Seminare kommen viele Menschen, weil sie das Gelernte für ihre Persönlichkeitsentwicklung nutzen wollen. Viele Chefs freuen sich über motivierte Mitarbeiter, wenn sie nach einer Fortbildung mit neuem Elan zurückkehren.

 

Im Grenzbereich ist Lernen lustvoll

Der spannendste Bereich unserer Komfortzone liegt im Grenzbereich – er befindet sich genau an der Schnittstelle zwischen langweiliger Unterforderung und stressiger Überforderung. Dort nehmen wir Veränderung als lustvoll und inspirierend wahr, denn dort geraten wir oft in den so genannten Flow: Wir gehen vollkommen in unserer wohl dosierten Aufgabe auf, vergessen Raum und Zeit. Solch eine Tätigkeit ist herausfordernd, denn sie trägt die Möglichkeit des Scheiterns in sich, gleichzeitig besteht eine große Wahrscheinlichkeit des Gelingens. Die anspruchsvolle Präsentation vor dem neuen Vorstand, die Geschäftseröffnung oder die Akquisition eines neuen Kunden kann ebenso viele Endorphine freisetzen wie ein Fallschirmsprung aus 1.000 Meter Höhe. Die Folge in beiden Fällen: wir wollen auf der Stelle mehr davon!  Wer oder was motiviert uns nun dazu, unsere Komfortzone freiwillig zu verlassen? Wenn Menschen echte Motivation verspüren, sind Höchstleistungen möglich.

Doch Veränderungsvorhaben scheitern, weil an alten Gewohnheiten festgehalten wird. Neue Verhaltensmuster erzeugen Angst und verbrauchen zu Beginn viel Energie. Jeder, der sich schon einmal glücklos an diversen Diäten versucht hat oder im nächsten Meeting endlich mal seinen Standpunkt klar machen wollte, weiß, wie schwer es sein kann, Vorsätze ohne Hilfe auch tatsächlich umzusetzen.

Im Coaching suchen wir bei unseren „Coachees“, also den Coaching-Klienten, nach dem wirkungsvollsten Hebel für nachhaltige Veränderung. Dazu machen wir zunächst einmal den individuellen Komfortzonen-Grenzbereich bewusst. Das kann für den einen das Gespräch mit dem Abteilungsleiter sein, für den anderen beginnt die Aufregung erst bei einem Vortrag vor Hunderten von Fachkollegen. Das Wichtigste aber: der Coachee braucht ein motivierendes Ziel. Ohne Ziel und die Aussicht auf eine sinn-stiftende Belohnung ist kein Mensch zu dieser Extra-Anstrengung bereit. Auch das ist evolutionsbiologisch sinnvoll. Der Mensch funktioniert wie ein biologisches Energiesparsystem. Kraft und Energie werden für existenziell wichtige Situationen aufgespart: Falls plötzlich ein Säbelzahntiger aus dem Gebüsch springen sollte, kann eine erfolgreiche Flucht lebensrettend sein!

Während meiner langjährigen Arbeit als Business Coach stelle ich immer wieder fest, dass Menschen einen starken Impuls brauchen, um ihre Komfortzone zu verlassen und automatisiertes Verhalten zu verändern. Daher definieren wir in jedem Coaching ein motivierendes Ziel.

In der Coaching-Fachsprache heißt es: ein Ziel muss „emotionale Ladung“ haben. Das heißt, es muss so erstrebenswert erscheinen, dass unser System die nötige Energie für die anstehende Anstrengung bereitstellt. Da reicht es nicht, sich die Zahl 100.000 Euro als Gehalts-Zielvorgabe hinter die Windschutzscheibe des noch-nicht-Porsches zu klemmen. Starke Ziele müssen sinnlich fühlbar und konkret sein. Nur wenn das Unbewusste wirklich spürt, wie gut es sich anfühlen wird, wenn wir ein Ziel erreicht haben, setzt es die nötigen Kräfte frei.

 

Dauerhaft außerhalb der Komfortzone: Stress!

Aber Achtung! Zuviel des Guten ist des Guten auch manchmal zu viel. Besonders ambitionierte Führungskräfte neigen dazu, sich chronisch zu überfordern. Sie muten sich zu viel zu oder ihnen wird zu viel aufgebürdet. Dann entsteht kräftezehrender, krankmachender Stress. Unruhe, Aggressivität oder Depressionen sind die natürliche Folge, denn der Körper ist dauerhaft überlastet. Dieser Zustand kann leicht ins Burnout führen.

Ständige Erreichbarkeit, permanenter Druck, immer schnellere Veränderung bei steigenden Ansprüchen bringen viele Manager an den Rand ihrer Belastbarkeit. Die technologische Revolution wirkt dabei wie ein Brandbeschleuniger. Xing, Twitter, Facebook. Opt-in oder Opt-out – die Auslese im Zeitalter von Social Media ist gnadenlos.

Veränderungen gehören zum modernen Leben. Die Kunst ist, darin die kreativen Potenziale und Entwicklungsmöglichkeiten zu erkennen. Mutige Bereitschaft zu neuem Lernen ist die Basis für jede Selbsterweiterung. Das müssen nicht immer riesige Schritte sein. Manchmal beginnt es damit, einfach mal mit Kollege X statt wie immer mit Kollege Y zum Essen zu gehen oder sich mutig für eine neue Projektleitung zu melden. 

Gleichzeitig müssen wir uns selbst mit Achtsamkeit und Selbstreflexion vor dauerhafter Überforderung schützen. Sonst könnte es sein, dass wir irgendwann nicht mehr zurückfinden – in die sichere Höhle unserer Komfortzone.